07 Februar 2010

Callcenter des Todes - 1. Kapitel

in dem der schreckliche Ort vorgestellt wird

Um 5:50 Uhr ging der Wecker. Leise schlich er sich aus dem Bett, runter in den Keller, ins Bad: Katzenwäsche, Zähne Putzen. Ein Kaffee mit sehr viel Milch, dass er nicht mehr so heiß ist, ein Blick auf die Uhr. Man muss um 6:15 Uhr im Auto sitzen, anders ist es nicht zu schaffen. Am Morgen war die Autobahn leer, die Sonne stand ihm im Rücken. Er fuhr zügig, sein Auto war alt, er war älter. Vier oder fünf Zigaretten würde er rauchen bis Potsdam, bis um 7, zum Schichtbeginn. Einmal hatte ihn Nickel.P, seine ehemaliger Teamleiter gefragt, ob er gerne Frühschichten mache. Ja, hatte er gesagt, wie er immer „Ja“ sagte, obwohl (oder weil) er wusste, dass es keine Rolle spielte. 15:30 Uhr war er raus: Das war wichtig.

In der ersten Stunde war nicht viel los. Er konnte sich noch einen Kaffee ziehen, das Hemdset um den Hals legen und ein wenig plaudern. Wenn da jemand war zum plaudern. Bei den meisten Themen im Raum konnte er nicht mitreden, wusste nicht, was „hot&not“ war, wusste nichts über Superstars (mit und ohne Anführungszeichen), nichts über Drehzahlbereiche oder Autotuning. Ob rosa das neue schwarz ist, er wusste es nicht zu sagen. Wenn eine Kollegin einen Lieblingssong – so für am Morgen ging das – einmal bei YouTube fand und laut aus den Computerboxen scheppern ließ, dass war es wahrscheinlich etwas von „Rammstein“. Blut, Gewalt und Tod und Rache: Das waren die Themen, so klang die Musik. Er sagte nichts dazu, wollte nicht wie ein blöder Erwachsener („Mach mal die Negermusik...“) darum bitten, die „Teutonenmusik“ auszumachen. Er wollte auch nicht wieder feststellen, wie national gesinnt die deutsche Unterschicht war. Das wusste er schon, vielen Dank.

Neben ihm saß heute Katja, mit der wollte er sich nicht unterhalten. Der eine fand den anderen nicht attraktiv. Da schwiegen sie eben. Er öffnete die Seite von Spiegel-Online, obwohl privates Surfen nicht gern gesehen wurde. Dann der erste Call. Eine schwäbische Hausfrau hatte im Laden ihren Vertrag verlängert und dabei die neuen Konditionen akzeptiert. Er holte sich ihre Unterschrift auf den Monitor: Pech gehabt. Es wird eben alles teurer, Madame. Er beruhigte sie: Es habe schon alles seine Richtigkeit, er könne ihr leider nicht helfen, sie können sich gerne schriftlich beschweren. (2:30 min)
So einer nach den anderen. Der Raum füllt sich, die 8 Uhr-Schicht, die 9-Uhr-Schicht... Beim nächsten Blick auf den Call-Monitor sind schon wieder 30 in der Warteschleife. Wie jeden Tag. Ganz egal wie viel man telefoniert, man ist nie fertig. Immer wartet da schon der nächste Kunde, hat auch ein Problem, will auch was von deiner beschissenen Freundlichkeit.

Vanessa.B geht durch die Reihen. Das wäre nicht nötig, den Staus von jedem Einzelnen kann sie auf ihrem Bildschirm ablesen: „Anja, du bist seit 2 Minuten auf Nacharbeit.“ - „Oh, entschuldige.“ Aber Vanessa.B geht gern mal durch die Reihen. Freut sich, dass sie nicht da sitzen muss.

Zurück an ihren Schreibtisch, sie bekommt beruflich Mails, die will sie jetzt mal bearbeiten. Ein Schichttausch, den muss sie genehmigen und einen Urlaubsantrag, die muss sie ins System einpflegen. Man hat hier einfach keine Ruhe. Man will ein eigenes Büro. „Wo ist eigentlich die Susi Barthels? Die hätte doch heute auch Frühschicht gehabt, oder?“ Wieder in den Dienstplan gucken, die Platzaufteilung: „Da steht es ja: 8 Uhr, Platz 97. Hat die sich krank gemeldet? - Nicht bei mir.“ Vanessa.B wird sich später darum kümmern.
Jetzt ist erstmal Meeting der Teamleiter. Die neuen Zahlen sind da. Bald werden es 10.000 Anrufe am Tag sein, nächste Wochen eine neue Gruppe eingearbeitet, 3 Agents sind abgesprungen – leider – undankbares Pack. Die Teamleiter versichern einander, dass sie unter immensen Druck stehen und gehen dann gemeinsam in die Kantine. Immer Mittwochs gibt es Currywurst mit Pommes-Frites als Essen I, das ist wie ein Ritual.

Susi Barthels taucht auch am nächsten Tag nicht auf - und ruft auch nicht an, sondern liegt auf dem Sofa. Den ganzen Tag. Und rührt sich nicht. Denn Susi Barthels ist tot. Aber das weiß noch keiner – na ja, einer doch.

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